Abgruende ihrer Lust by Claas van Thijs

Autor:Claas van Thijs [Thijs, Claas van]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Club der Sinne

Das Atelier

Katja kam aus dem Staunen nicht heraus. Das, was sie hier sah, übertraf ihre Erwartungen bei Weitem. Um sie herum standen zig Skulpturen. Manche schienen noch nicht vollendet zu sein, manche sehr abstrakt, andere wiederum waren beängstigend realistisch. An den Wänden standen unzählige Leinwände mit Bildern.

Katja blieb vor einer der unfertigen Skulpturen stehen. Es war ein großer Granit-Quader, etwa zwei Meter hoch. Er war nahezu unbearbeitet, am oberen Rand war das Fragment eines Gesichtes zu sehen: ein Auge, der Ansatz der Nase und nur ein Teil der Oberlippe. Trotz der wenigen, vagen Andeutungen, berührte die Skulptur Katja ungemein.

Orlando lächelte: „Was sehen Sie, Katja?“

Katja atmete tief ein. Das kleine Gesicht, gefangen in diesem Stein, bedrückte sie.

„Ich weiß nicht so recht: Angst? Trauer? Wut? Verzweiflung?“

Orlando nickte. Er zog sie ein Stück weiter. Sie sah die Skulptur nun aus einem anderen Winkel.

„Und jetzt?“

Katja war überwältigt. Dieselben Fragmente wirkten nun geborgen in der Sicherheit dieses Riesenblocks. Es war nichts mehr zu erkennen von den negativen Emotionen, die sie eben noch hatte. Das Gesicht wirkte glücklich.

„Das gibt es doch nicht!“, flüsterte sie.

„Es ist eine Allegorie, Katja. Sie sind nur einen Schritt weitergegangen und haben Angst, Trauer, Wut und Verzweiflung hinter sich gelassen. Der Mut weiterzugehen, verschafft einem oftmals einen neuen Blickwinkel auf die Dinge.“

„Aber was ist, wenn ich von der anderen Seite daran vorbeigehe?“

„Probieren Sie es aus!“

Katja drehte sich um, und ging langsam zurück. Sie schauderte und spürte ein unbändiges Bedürfnis zurückzugehen. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.

„Manchmal ist es klüger, wieder einen Schritt zurückzugehen, Katja.“

Orlando überließ sie wieder sich selbst. Sie schlenderte durch die Halle und als sie an einer wunderschön ausgearbeiteten Holzfigur vorbeiging, blieb sie plötzlich stehen. Irgendetwas ging ihr durch Mark und Bein. Sie schaute die Skulptur genauer an. Es war ein wunderschöner Frauenkörper, der, wie vorhin das Gesicht im Stein, noch zu weiten Teilen im unbearbeiteten Baumstamm zu stecken schien. Die linke Brust war wunderschön ausgearbeitet; das linke Bein von übergroßen, fremden Händen hochgehalten, präsentierte sie eine obszön klaffende Vulva, die von einem Scheinwerfer angestrahlt wurde. Auch am rechten Bein, das noch halb im Stamm verborgen war, fanden sich große Hände. Katja betrachtete die Skulptur noch einmal. Konnte aber nicht feststellen, was sie so aus der Fassung gebracht hatte.

„Was ist das? Warum?“

„Kommen Sie mit!“

Orlando führte Katja an eine Stelle, in der ein Riss in der Rinde des Baumstammes den Blick auf das Innere des Stammes freigab. Es waren Augen zu erkennen, die ebenfalls beleuchtet waren. Traurige Augen. Augen, die sie kannte. Entsetzt drehte sich Katja zu Orlando um.

„Sie wissen von …?“

Orlando nickte.

„Es war ihre Idee, und Anna stimmte zu. Colette kam mit Anna hierher ins Atelier und redete. Formte selbst. Wies mich an. Wir arbeiteten über ein Jahr daran.“

„Warum?“

„Ihr Unterbewusstsein sieht mehr, als Sie wissen, Katja. ABER: Nur, wer Colettes Geschichte kennt, kann ihr Gesicht erkennen. Wir haben es ausprobiert, sonst wäre die Skulptur nicht in der öffentlichen Ausstellung.“

Gemeinsam wandelten die beiden durch die große Halle. Katja war zutiefst beeindruckt. Sie wusste nicht, wie lange sie schon da war, vergaß Raum und Zeit.

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